- Wirtschaftsnobelpreis 1998: Amartya Kumar Sen
- Wirtschaftsnobelpreis 1998: Amartya Kumar SenDer indische Ökonom erhielt den Nobelpreis für seine grundlegenden theoretischen Beiträge zur Wohlfahrtsökonomie in Entwicklungsländern.Amartya Kumar Sen, * Santiniketan (Indien) 3. 11. 1933; 1956-58 Professor an der Jadavpur University in Kalkutta, 1963-71 Professor in Delhi, 1971-77 an der London School of Economics, 1977-88 in Oxford, 1988-98 Inhaber des Lamont-Lehrstuhls sowie der Professur für Wirtschaft und Philosophie an der Harvard University, seit 1998 Inhaber des Master-Lehrstuhls am Trinity College in Cambridge (England).Würdigung der preisgekrönten LeistungAm 12. Dezember 1998, rund zwei Monate nach der Verleihung der Nobelpreise, erschien in der »Süddeutschen Zeitung« ein Artikel mit dem Titel »Demokratie macht satt«. Sein Verfasser: Amartya Sen. Man kann die Schlussfolgerungen aus Sens wissenschaftlichem Lebenswerk kaum besser in drei Worten zusammenfassen.Sen beschäftigte sich seit den 1970er Jahren zumeist mit der Wohlfahrtsökonomie, dem Teilbereich seines Fachs, der den Einfluss der Wirtschaft auf das Wohlergehen der Gesellschaft untersucht. Auslöser seines Interesses war vor allem ein gravierendes Erlebnis in seiner Kindheit: In West-Bengalen geboren, erlebte er 1943 im Alter von neun Jahren eine große Hungersnot mit. Fast drei Millionen Menschen fielen ihr zum Opfer. Wie Sen später selbst bekundete, war diese Katastrophe »eine einschneidende Erfahrung« in seinem Leben. Die Erforschung ihrer volkswirtschaftlichen Zusammenhänge und Ursachen sollte ihn später lange Zeit beschäftigen.Wirtschaftswissenschaftler oder Philosoph?Im Jahr 1951 begann Sen seine wissenschaftliche Karriere am Presidency College in Kalkutta. Im selben Jahr veröffentlichte der spätere Nobelpreisträger Kenneth Arrow (1972) sein Buch »Social Choice and Individual Values« (englisch; Soziale Entscheidung und individuelle Werte) — ein Werk, das den jungen Studenten Sen stark beeindruckte. Arrow stellte darin unter anderem sein »Unmöglichkeits-Theorem« vor, mit dem er die Aussage formulierte, dass Präferenzen von Individuen nichtwiderspruchsfrei zu gesamt gesellschaftlichen Präferenzen zusammenzufassen sind. Sen setzte sich mit diesem Theorem fast 20 Jahre später in einem Aufsatz auseinander, der zu einem Meilenstein der Wirtschaftswissenschaften werden sollte.1953 wechselte Sen an das Trinity College der Cambridge University, wo er unter anderem den Marxisten Maurice Dobb kennen lernte, der ihn überaus beeindruckte. Sehr grundlegend beschäftigten ihn auch Adam Smith, Karl Marx und John Stuart Mill.Bald schon zeigte sich die starke Hinwendung Sens zur Philosophie, die seine wirtschaftswissenschaftliche Forschung und Karriere nachhaltig prägte. Nachdem er, gefördert durch ein Stipendium, ein Philosophiestudium in Cambridge absolviert hatte, bereitete er Anfang der 1960er-Jahre das Feld für sein späteres Hauptwerk in der Wohlfahrts- und Entwicklungsökonomie vor und stillte zugleich seinen ungeheuren Wissensdurst.Die Aufsätze, die Sen zu dieser Zeit verfasste, kann man als Versuche ansehen, die Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer zentralistisch geplanten Wirtschaftspolitik zu definieren, zu messen und zu hinterfragen. Von Kritikern wurde er dafür als etatistisch und zentralistisch verdammt; tatsächlich ging es Sen aber stets darum, die Freiheit des Einzelnen durch den Staat zu garantieren.Immer stärker geriet dabei auch die Social-Choice-Theorie in das Zentrum von Sens Interesse. Mit dem Versuch der Theorie zu klären, wie kollektive Entscheidungen mit den Werten einzelner Menschen in Einklang zu bringen sind, ergeben sich für die Wirtschaftspolitik ganz praktische Fragen: Wie kann eine Regierung die sozialen Werte der einzelnen Menschen durch die Politik aufnehmen? Wie soll ein Entwicklungsland Devisen ausgeben, wenn es seinen einzelnen Bürgern ein besseres Leben ermöglichen will? Was sind die Bedürfnisse der Menschen und wie lassen sie sich messen?1970 erschien Sens wissenschaftlich bedeutsamer Aufsatz »The Impossibility of Paretian Liberal« (englisch; Die Unmöglichkeit der gleichberechtigten Freiheit), der seine Antwort auf das Unmöglichkeitstheorem Arrows enthält. Noch im selben Jahr veröffentlichte er das Werk, das ihn international bekannt machen sollte: Das Buch »Collective Choice and Social Welfare« (englisch; Kollektive Wahl und soziale Wohlfahrt) stellte eine Zusammenfassung des damaligen Wissensstands über die Social-choice-Theorie dar.Neue Ansätze in der WohlfahrtsökonomieIn der Folgezeit verschoben sich Sens Interessen von der Theorie hin zu empirischen, praxisbezogenen Untersuchungen. Zunächst entwickelte er ein neues Konzept für die Messung der Armut, weil ihm die alten unzureichend erschienen: Indem sie nur die Gesamtheit aller Armen eines Lands betrachteten, übersahen sie die Ausmaße der Armut. Sen fasste daher seine Ideen in mathematischen Formeln, sodass er nun auch die Zahl der Armen, den Einkommensabstand der Armen zur Armutsgrenze und die Verteilung des Einkommens unter den Armen berücksichtigen konnte. Dabei untersuchte Sen vor allem Hungersnöte in Bangladesh, Bengalen, Äthiopien und in den Sahara-Staaten.Seine Ergebnisse überraschten viele, kam er doch zu dem Schluss, dass Hungerkatastrophen keineswegs auf einem Mangel an Nahrung beruhen müssen. Vielmehr seien die untersuchten Katastrophen zum großen Teil aus Verteilungsproblemen entstanden. Es habe bei den untersuchten Fällen in Jahren der Not nicht signifikant weniger Nahrung zur Verfügung gestanden als in den Jahren davor oder danach; Hunger-Gegenden hätten bisweilen sogar Nahrung exportiert. Die Ursachen des Hungers lägen daher in einer Vielzahl sozialer und ökonomischer Faktoren.Um Hungersnöte zu vermeiden, müsse man die Zugangsrechte der Armen zu vorhandenen Gütern (»entitlements«), denen er auch normative Wirkung zuschreibt, durch eine Steigerung der Kaufkraft stärken. Er untersuchte insbesondere auch die Beschränkung der »entitlements« bei Frauen und Kindern. Beispiele hierfür sind nach Sen mangelnde Bildung oder eine Unterdrückung, die von den Frauen gar nicht bewusst als solche wahrgenommen wird. Sen gilt auf diesem Feld als Vorreiter in den Sozialwissenschaften.Ende der 1980er-Jahre begann er auch auf dem Gebiet der Entwicklungspolitik zu arbeiten. Insbesondere mit seiner Tätigkeit im Rahmen des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) beeinflusste er die Politik der Weltbank und der UN.Schon mit seiner Armutsformel hatte er sich deutlich gegen eine normative Wirtschaftspolitik gewandt, die das Einkommen und die Kaufkraft der Menschen zum alleinigen Maßstab erhebt. Es kam ihm darauf an, was Menschen mit ihre Gütern erlangen können, und nicht, was der Einzelne tatsächlich besitzt. Diese so genannte »capability« (englisch; Fähigkeit) wurde nun zu einem Kernbegriff in Sens Arbeit; sie wurde ergänzt von den »functionings«, den Werten eines Menschen wie beispielsweise der Ernährung, das Einkommen, die Selbstachtung und das aktive Mitwirken in der Gemeinschaft. Mit dem Buch »Commodities and Capabilities« (englisch; Güter und Fähigkeiten) verband er 1985 schließlich seine Theorien und die empirischen Ergebnisse in einem Werk.So folgerte er unter anderem, dass eine sinnvolle Entwicklungspolitik die Freiheit des Individuums stärken muss: »Durch die Gewährleistung und Ausübung bestimmter politischer Rechte und Freiheiten, nicht zuletzt der Meinungs- und Pressefreiheit, können volkswirtschaftliche Katastrophen wie Hungersnöte wesentlich effektiver abgewendet werden [...] An Hungersnöten sterben rund um die Welt Millionen von Menschen, nicht aber die Herrschenden.«A. Loos
Universal-Lexikon. 2012.